Saša Stanišić: Herkunft

Am Flughafen. Ich bemerke, dass ich mein Buch vergessen habe, will aber unbedingt etwas lesen. Ich frage im kleinen Buchladen nach “Winterbienen”. Die Verkäuferin, die sich gut auskennt, lächelt. Ich Frage nach dem Grund: “Wir haben das Buch lange hier gehabt, niemand hat danach gefragt. Also haben wir es weggelegt”. Ich kaufe mir “Herkunft”. Es ist ein großartiges Buch, ich weiß aber nicht, ob es ein Roman oder eine Autobiographie ist. Im Englischen würde man es wahrscheinlich “autofiction” nennen.

Das Buch ist voller Überraschungen und poetischer Momente. Voller Momente, wenn man laut lachen möchte, um zwei Zeilen, Paragraphen oder Seiten später nachdenklich gestimmt zu werden. Fast jede Seite hat zumindest einen Satz, den ich mehr als ein Mal lesen möchte:

Liebe Ausländerbehörde, ich bin am 7. März geboren in Jugoslawien in einer Regennacht. Ich lebe seit dem 24. Aug 1992, einem Regentag, in Deutschland. Ich bin ein höflicher Mensch. Ich möchte nicht, dass sich jemand unwohl fühlt, nur weil ich kein Tscheche bin. Ich sage: Ich komme aus … undsoweiter. Dann sage ich: »Ist das Axl Rose von Guns N’ Roses dahinten?« Wenn sich der Gesprächspartner umsieht, verwandle ich mich in einen deutschen Schmetterling und fächle davon.

Herkunft, S. 36

Wegen Kontext habe ich den ganzen Paragraphen wiedergegeben, es geht mir aber nur um den letzten Satz, um den Schmetterling, der davon fächelt.

Die Großmutter Kristina ist für den Erzähler sehr wichtig. Die allgegenwärtige Frage nach Identität und Herkunft wird sehr stark aus der Auseinandersetzung mit der Beziehung zur Großmutter abgeleitet. Sprachlich wird diese Auseinandersetzung sehr gekonnt dargestellt, aber ein richtiges Ende will dem Autor nicht gelingen (absichtlich). Ich könnte nicht sagen, wo das Buch endet. Auf Seite 295 bietet Stanišić einen knapp vierseitigen Epilog, der das Ende des Buches darstellen könnte. Doch dann beginnt Der Drachenhort, eine Art neues Kapitel mit eigener anders gesetzter Überschrift. Hier geht es um eine interaktive Geschichte, wo die Leser auf 57 Seiten den weiteren Verlauf der Erzählung bestimmen können. Und hier wird deutlich, dass der Erzähler die Geschichte nicht beenden kann. Nein, er möchte die Geschichte nicht beenden. Der Leser wird gebeten, die Rolle des Erzählers zu übernehmen (S. 301: „Du bist ich.“), und der Erzähler übernimmt die Leitung der interaktiven Geschichte. Er bietet verschiedene Möglichkeiten an, die Geschichte kann je nach Wahl sehr anders verlaufen. Doch der Erzähler kann sich von seiner eigenen Rolle nicht ganz trennen. Er bleibt involviert, und erzählt zwischendurch seine eigene Geschichte weiter: „Für mich ist es Zeit, die Fiktion zu verlassen“ (314), heißt es in einer Anleitung zum weiteren Verlauf der Geschichte. Oder, wenn der Erzähler mitten in der Geschichte auftaucht und seine eigene Geschichte aufgreift, indem er einen Satz aus der Geschichte des Lesers zitiert, dessen schwerwiegende Bedeutung er feststellt und zugleich sich selbst als Autor zu erkennen gibt: „Schmetterlinge sind es nicht, du Esel.“ (S. 322).

Die weitere Entwicklung der Geschichte nach dem Epilog ist schmerzhaft. Der Erzähler will ein abruptes Ende vermeiden, er will, so scheint es mir, den Schmerz mit den Lesern teilen, falls er es kann, sogar das Ende nur beiläufig erwähnen. Der Leser wird so in ein Labyrinth von Möglichkeiten geschickt, aus dem er nicht mehr ganz entkommen kann. Der Erzähler aber doch. Er greift in die Geschichte ein, läutet auch beiläufig das Ende ein, will aber die Erzählung trotzdem nicht beenden. Die Vergangenheit und die Gegenwart verschmelzen, vielleicht zu einer Ewigkeit, in der das Ende vermieden werden kann.

Zu einer Zeit, wenn Großbritannien einem Premierminister ein Mandat gibt, die EU zu verlassen, sollte man dieses Buch auch wegen der politischen Lage lesen und kennen. Bravo, Herr Stanišić! Wenn ich es sagen darf: Sie haben gezeigt, dass Migration eine Quelle der Bereicherung ist, auch wenn die Gründe für Migration die Menschen eher verarmen. Und gerade wegen der kulturellen Verarmung ist es wichtig, dass wir offen bleiben und uns gegenseitig nicht ausschließen.